Mein Zehn-Bücher-Regal

Bücher 1

Mathis Oberhof, ein Facebook-Bekannter, hat mich freundlicherweise angefragt, eine Liste meiner zehn wichtigsten Bücher zusammenzustellen – es sei spannend, über so eine Liste etwas über die Menschen zu erfahren. Das finde ich auch! Ich beteilige mich also gern.

Für mich persönlich formuliert sich die Frage nach den zehn Büchern immer so aus: Wenn ich nur zehn mitnehmen dürfte, auf eine einsame Insel, in eine Zelle – oder weniger romantisch ins Altenheim, wo nur noch ein Regalbrett im Zimmer erlaubt ist – welche wären es? Bei mir ist es eine Mischung geworden aus Büchern, die ich so unerschöpflich finde, dass ich mir vorstellen kann, immer wieder darin zu lesen, und solchen, die mich in bestimmten Lebensphasen stark geprägt und begleitet haben, in die man gern wieder eintaucht wie in ein Musikstück, mit dem man ganze Lebensstimmungen verbindet. Hier sind sie also, wobei die Reihenfolge eher chronologisch zu sehen ist und nicht unbedingt eine Rangfolge darstellt:

Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?

Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit

Herbert Witzenmann, Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie

Irene Méline, Klimmüge

Gershom Scholem, Die Hauptströmungen der jüdischen Mystik

Nicole Krauss, Die Geschichte der Liebe

Eckart Tolle, Jetzt – die Kraft der Gegenwart

Martin Heidegger, Vom Ereignis

Cynthia Bourgeault, Love is Stronger than Death

Die Bibel

 

Könige der Nacht

Nachtigall Wikimedia

In unserem beschaulichen Frankfurter Vorort Niederursel am nördlichen Stadtrand werden wir jedes Jahr mit einem besonderen Naturschauspiel beschenkt: Irgendwann im Frühling, spätestens Ende April, kehren die Nachtigallen zurück. Vom frühen Morgen – sofern wir ihren Gesang erkennen – bis tief in die Nacht hinein können wir dann  die größten Sänger in der Tierwelt bewundern. Die überaus scheuen, nur spatzengroßen Vögel sehen äußerlich unscheinbar aus, wenn man sie denn überhaupt zu sehen bekommt. Mit ihren tiefen, oft an ein Schluchzen erinnernden Strophen singen sie aber variantenreicher, kunstvoller und anrührender als alles Vergleichbare. „Früher galt der Gesang der Nachtigall als schmerzlindernd und sollte dem Sterbenden einen sanften Tod und dem Kranken eine rasche Genesung bringen“, lese ich dazu bei Wikipedia. Ja, etwas Geheimnisvolles umgibt sie.

Bewundernswert finde ich aber nicht nur die Schönheit ihres Gesangs, sondern auch ihre Standhaftigkeit angesichts der zunehmenden Zerstörung ihres Lebensraums. Entlang der Wiesen, Obstbäume und Sträucher im Umfeld des Urselbachs, der hier vom Taunus im Norden kommend Richtung Nidda und Main fließt, hatten die Nachtigallen früher ein herrliches Revier. Heute muss sich ihr Gesang gegen den Lärm der Flugzeuge und des auch nachts nie abschwellenden Lärms der A 5 behaupten, die hier heute das Tal kreuzt. Das heutige Siedlungsgebiet der Nachtigallen, die hier immer noch in fast regelmäßigen Abständen von rund 800 Metern jedes Jahr standorttreu ihr Revier wiederbeziehen, wird außerdem zerteilt von einer Schnellstraße. Zusätzlich zu der Schienenstrecke nach Oberursel schneidet zudem seit kurzem noch eine neue U-Bahnlinie die Landschaft und eine weitere ist in Planung. Der schnell wachsende Unicampus und der neue Stadtteil Riedberg tun ihr übriges.

Dennoch: Die Meistersänger haben bisher allen Widrigkeiten getrotzt, scheinen Lärm, Bauarbeiten und Verkehr um sie herum zu ignorieren, solange sie bei ihrer Rückkehr aus dem Süden noch ein unzugängliches Versteck in dichtem Gesträuch vorfinden. Dort sitzen sie, ohne je gesehen zu werden, und erfüllen den ganzen Umkreis mit ihrem Klang. Und besonders nachts, wenn der Sehsinn für uns seine Dominanz verliert und wir zu Lauschenden werden, scheint uns ihr Singen in eine andere Welt zu versetzen, in der man die Übergriffe der Zivilisation für Momente vergisst.

Keimen und Wachsen

Keime

Ein Same zuerst, dann ein Keimen: Zwei einfache Blättchen an einem Stengel, dann weitere, differenziertere Flächen aus lebendem Grün – ein Prozess vitalen Wachsens, den wir draußen auf den Feldern verfolgen können oder auch in der Saatenkeimbox zuhause, Tag für Tag ein wenig weiter.

Wir sehen aber nicht nur etwas Äußeres sich verändern: Die Bewegung, die Verbindung zwischen den Stadien, der Übergang von einer Lebens-Stufe zur nächsten – das sind wir auch selbst als Vollziehende. Und sogar die perfekteste Zeitrafferaufnahme täuscht nicht darüber hinweg, dass dieser Prozess als Prozess nicht „gesehen“ werden kann, sondern – in der Nachbildung noch! – ein inneres Mitgehen ist. Die Kraft des Lebens im Keim und unser (Mit-)Bewegen im Bewusstsein, Außen und Innen, sind eins. Es ist – frei nach Goethe – die Idee der Pflanze selbst, die in unserem Geist als deren beweglicher Begriff wirkt.

Ist es nicht schön, dass uns die Natur mit sich wachsen lässt, wenn wir’s nur richtig anschauen?

Auferstanden aus Ruinen

Frauenkirche Trümmerteil

Reisenotiz: Die Dresdner Frauenkirche hatte die verheerende Bombennacht vom 14. auf den 15. Februar 1945, bei der Zehntausende umkamen und die gesamte Innenstadt vollständig zerstört wurde, ohne Treffer überstanden, die Feuersbrunst sprang jedoch auf das Gebäude über und die Kirche brannte vollständig aus. Die mehr als 24 Stunden wütende Hitze hatte  fatale Folgen für die Stabilität des Baus, der am am 15. Februar  um zehn Uhr vormittags einstürzte.

Auf dem Vorplatz der Frauenkirche steht heute ein gewaltiges Trümmerstück aus der ursprünglichen Kuppel, das Teil des Schuttberges war, der hier bis zum Beginn des Wiederaufbaus lag. Eine kleine Metalltafel zeigt die Position des Stücks in der Kuppel an. Beim Wiederaufbau konnten viele Steine der „alten“ Frauenkirche integriert werden, die Kuppel jedoch wurde gänzlich aus neuen Steinen gebaut.

 

Ein neues Jahr – das heißt: alles auf Anfang!

Steg

Diese ersten Tage des Jahres, eine kalendarische Gelegenheit, aufzuräumen und Dinge hinter sich zu lassen, die nicht mehr tragen – Dinge, was wohl eher meint: Verhältnisse und Situationen, und manchmal auch Beziehungen zu Menschen.

Hinter sich lassen und doch irgendwie mitnehmen, weil es Teil von uns geworden ist, als eingeschriebene Rille in unserem Erfahrungsleib, als Trauma oder, einerlei, als Sehnsucht. Vergessen, was gewesen ist – ja, manchmal muss auch das sein und es ist gut, dass wir es können, das Vergessen, was ja nur soviel heißt als: nicht krampfhaft das Bewusstsein an Erinnertes haften.

Und doch eingedenk bleiben, dass alles seinen Sinn gehabt haben mag, als Gelerntes für eine noch wartende Zukunft. Wenn irgendwo eine Tür zugeht, geht woanders eine auf, sagt man.

Deshalb vor allem: anfangen!

Anfangen kann man nur aus dem Nichts. Von Nichts kommt alles. Zurück vor alles Gewordene und wieder ins Jetzt und dabei wissen, dass alles auf diesem Nichts ruht, in ihm gründet und ohne es abstirbt.

Im-Anfang-Sein ist das Ursprüngliche schlechthin, das Namenlose, Unbegrenzte, Unfassliche.  Das höchste Sein, die Wesenheit der göttlichen Sophia, entspringt dem Nichts, erklärt der Kenner jüdischer Mystik, Gershom Sholem. Wo Anfang ist, da ist das Wort, sagt Hugo Kükelhaus. Anfänglich sein und handeln heißt so verstanden nicht, das Vorübergehende eines Beginnens zu betonen, und es meint gerade nicht, sich klein zu machen in einem nur Versuchenden, sondern es bedeutet, die Tiefe des Ursprünglichen in allem, was wir denken und tun zu halten, zu hüten und zu mehren.

Alles soll Anfang sein und anfänglich werden und bleiben.

Fangen wir an!

Advent

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Im Advent sind mehr Almosenerbittende unterwegs als sonst im Jahr. In der Fußgängerzone saß neulich sogar einer mit Kerze. Und gestern klingelte es an der Haustür.

Ein Junge mit einer Sammelbüchse, das Alter schwer zu schätzen, südlich-dunkle Haut, tiefschwarze Haare, vom Gesicht her irgendwo zwischen zwölf und vierzehn. Als er zu reden anfängt, korrigiere ich auf zehn oder zwölf, wegen der hellen, fast singenden Stimme. Er komme vom Winterzirkus und wolle um etwas Geld für das Futter der Tiere bitten, sagt er, irgendwie feierlich. Ich finde das ehrbar, was er macht, spontan kommen Erinnerungen an meine eigene Kindheit hoch, wo am Rande der Großstadt immer wieder Wanderzirkusse Rast machten. Vielleicht sehe ich mich für einen Moment selbst in dem Jungen. In Sekundenbruchteilen entscheide ich, dass jetzt weder mein Zweifel bezüglich Zirkustieren zur Sprache noch eine Ausrede zur Anwendung kommen wird, dass ich kein Kleingeld hätte. Ich werfe ihm zwei Euro in die Büchse.

Als ich mich umdrehe, geht noch ein Nachbar durch den Hauseingang, ich höre wieder diese helle, engelhafte Stimme ihren Spruch mit dem Winterzirkus sagen, der gleiche, so ernsthaft erklärende Tonfall des Jungen, aber der Nachbar reagiert, wie ich vielleicht auch reagiert hätte, eilig, unwirsch, wortlos weitergehend, den Jungen mit der Büchse zurücklassend.

Ich spüre, wie man so sagt, einen Stich im Herzen. Wieder in der Wohnung zurück, wo in alter Tradition ein Adventskranz auf dem Tisch steht, ist es warm, mein Milchkaffee steht noch da, die Nachmittagssonne dieses klaren und kalten Tages vergoldet den Raum. Mein Gott, hab‘ ich es gut. Mir schießen Tränen in die Augen bei dem Gedanken, warum dieser liebenswürdige Junge jetzt weiter die Straßen mit seiner Büchse abklappern muss; ich denke darüber nach, was aus mir selbst geworden wäre, wenn meine Eltern mir nicht ermöglicht hätten, dass ich zur Schule und später zur Universität gehen konnte, und finde die Welt unerträglich ungerecht. Hoffentlich kann der Junge heute mit Stolz seinem Zirkus eine volle Büchse bringen.

Als ich später am Abend in einem Gespräch von der Begegnung mit dem Jungen erzähle – und noch immer kriege ich nasse Augen dabei – tröstet mich eine liebe Seele, dass wir die Welt eben meist nur durch einen Filter geschützt überstehen können.  In der Wirklichkeit aber webt immer diese Beziehung von Mensch zu Mensch, wo ich nicht von diesem Jungen getrennt bin, und mir scheint, dass in der Zeit vor Weihnachten diese Seelennähe unverhüllter als sonst zum Vorschein kommt. Wie aber könnten wir weiterleben, wenn wir das jeden Moment so spüren würden?

November

November

Wie dankbar man für die Sonne im November wird. Letztes Herbstlaub an Ästen, die nie so schwarz waren wie jetzt gegen den Milchhimmel. Wie lauscht man auf eine einzige verspätete Amsel im Morgennebel.

Einige Baustellen blieben bereits zurück. Beziehungen, Freundschaften zerbrachen oder gingen einfach irgendwann auseinander. Früher hatten jugendlicher Optimismus oder eine reichlich vorhandene Naivität Misserfolge stets nur als vorläufige Rückschläge eingestuft, über die sich hinweggehen ließ. Inzwischen war die Lebensmitte überschritten und erste körperliche Anzeichen hatten einen Horizont aufscheinen lassen, der irgendwann einmal nicht mehr Horizont wäre, sondern etwas, an dem man sich wirklich stößt. Das deutliche Gespür dafür, dass es tatsächlich einmal ein Ende geben wird. Manche Fehler, soviel war bereits klar, würden sich nicht wiedergutmachen lassen, manche Brüche würden Brüche bleiben und einige Hoffnungen würden sich nicht mehr erfüllen.

Wie wohl ein Leben aussieht das nur noch aus Rückblick besteht. Das Zurückschauen der Alten ist gar kein intellektueller Akt. Es hat mehr Ähnlichkeit mit dem Verdauen. Ein Leben wird wiedergekäut, innere Endlosschleifen vor dem Blick, wo der ganze Leib in seinen feineren Schichten in Resonanz gerät. Versunken in diesen tieferen Körpersedimenten hatte meine Großmutter, die weit über 90 wurde,  ganze Nachmittage im Schaukelstuhl zugebracht, befasst mit einem inneren Anschauen, dessen Dichte für sie Nahrung gewesen sein musste, einem Innesein, innerhalb dessen man sich umsehen und herumschreiten konnte wie in der wirklichen Welt, vielleicht sogar besser, dessen Windungen man kannte und von dessen Fülle man dennoch immer wieder wie beseelt war, selbst wenn für sie die Inhalte oft trauriger Natur gewesen sein mochten, aber vielleicht doch nicht nur.

Soweit war es aber noch nicht. Jetzt ging es noch um ein Entscheiden, es gab Spielräume. Unterdrückung oder Befreiung; Hass oder Liebe; Angst oder Mut – Wahlmöglichkeiten: Nicht allein das ein oder andere So oder So, sondern das Entscheiden selbst. Entscheiden, was sein wird.   

Menschheits-Repräsentanten

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Der individuelle Mensch ist mehr als ein Exemplar der Menschheit, er ist auch nicht nur die einzigartige Form, in der sich „das Eine“ manifestiert – denn dann wäre in diesem „Einen“ schon immer alles enthalten, eine Evolution wäre sinnlos und es wäre nichts wirklich Neues mehr möglich.

Menschheit als ein vorgegebenes Ganzes existiert nicht. Das ist das Besondere an uns Menschen, dass wir uns, anders als die mit uns verwandten Tiere, nicht mit einer fertigen Wesensdefinition von der Evolution ausgestattet vorfinden. Kein Pferd, kein Löwe, kein Adler muss sich darum kümmern, Inhalt und Ziel seiner Existenz zu bestimmen. Seine genetische Ausstattung, sein Körperbau, sein instinktives Verhalten und die dazugehörige Umwelt sind das, was ihn sein Wesen leben lässt. Demgegenüber sind wir Menschen grundsätzlich unfertig und unbestimmt. Beim “Phänomen des Menschen” (Teilhard de Chardin) existiert, anders als bei den reinen Naturwesen, kein Allgemeines, aus dem heraus sich unser Wesen bestimmen würde: Der Mensch als ein Vernunftwesen, als intelligentes Tier und ähnliche Definitionen – sie sind so abstrakt, dass mit ihnen noch nichts wirklich Menschliches beschrieben ist. Was ich an einem Tier beschreiben kann an Verhalten, an äußerer Gestalt – das ist im Wesentlichen für alle Exemplare einer Gattung gleich. Bei uns Menschen dagegen bildet das allgemein Beschreibbare wie die biologischen Besonderheiten oder instinktive Verhaltensmuster oder auch typologische Gemeinsamkeiten noch nicht das eigentlich Menschliche. Es ist eben genau umgekehrt: was wirklich menschlich ist am Menschen, das lässt sich nur am Verhalten einzelner Menschen ablesen; der einzelne, individuelle Mensch steht zur Gattung nicht in einem Verhältnis des Exemplars, sondern umgekehrt, der Einzelne ist berufen zum Repräsentanten dessen, was die Menschheit als Ganze zu sein vermag.

Steiner selbst hat es einfach und radikal in seinem Buch “Theosophie” formuliert: „Jeder einzelne Mensch entspricht dem, was in der Natur eine Gattung ist.“