November

November

Wie dankbar man für die Sonne im November wird. Letztes Herbstlaub an Ästen, die nie so schwarz waren wie jetzt gegen den Milchhimmel. Wie lauscht man auf eine einzige verspätete Amsel im Morgennebel.

Einige Baustellen blieben bereits zurück. Beziehungen, Freundschaften zerbrachen oder gingen einfach irgendwann auseinander. Früher hatten jugendlicher Optimismus oder eine reichlich vorhandene Naivität Misserfolge stets nur als vorläufige Rückschläge eingestuft, über die sich hinweggehen ließ. Inzwischen war die Lebensmitte überschritten und erste körperliche Anzeichen hatten einen Horizont aufscheinen lassen, der irgendwann einmal nicht mehr Horizont wäre, sondern etwas, an dem man sich wirklich stößt. Das deutliche Gespür dafür, dass es tatsächlich einmal ein Ende geben wird. Manche Fehler, soviel war bereits klar, würden sich nicht wiedergutmachen lassen, manche Brüche würden Brüche bleiben und einige Hoffnungen würden sich nicht mehr erfüllen.

Wie wohl ein Leben aussieht das nur noch aus Rückblick besteht. Das Zurückschauen der Alten ist gar kein intellektueller Akt. Es hat mehr Ähnlichkeit mit dem Verdauen. Ein Leben wird wiedergekäut, innere Endlosschleifen vor dem Blick, wo der ganze Leib in seinen feineren Schichten in Resonanz gerät. Versunken in diesen tieferen Körpersedimenten hatte meine Großmutter, die weit über 90 wurde,  ganze Nachmittage im Schaukelstuhl zugebracht, befasst mit einem inneren Anschauen, dessen Dichte für sie Nahrung gewesen sein musste, einem Innesein, innerhalb dessen man sich umsehen und herumschreiten konnte wie in der wirklichen Welt, vielleicht sogar besser, dessen Windungen man kannte und von dessen Fülle man dennoch immer wieder wie beseelt war, selbst wenn für sie die Inhalte oft trauriger Natur gewesen sein mochten, aber vielleicht doch nicht nur.

Soweit war es aber noch nicht. Jetzt ging es noch um ein Entscheiden, es gab Spielräume. Unterdrückung oder Befreiung; Hass oder Liebe; Angst oder Mut – Wahlmöglichkeiten: Nicht allein das ein oder andere So oder So, sondern das Entscheiden selbst. Entscheiden, was sein wird.