Die Zerbrechlichkeit von Mobiles

 

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 Warum ich skeptisch zu Volksentscheidungen stehe

 Der Volksentscheid zum Brexit, das Referendum gegen die EU-Sparauflagen in Griechenland, die Grundeinkommens-Abstimmung in der Schweiz, die Volksabstimmung in den Niederlanden gegen die Aufnahme der Ukraine, und bald der Volksentscheid gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in Ungarn – Volksabstimmungen sorgen in letzter Zeit für erregte Debatten.

Auch in Deutschland wird der Ruf nach Volksentscheiden gegenwärtig lauter, nicht zuletzt auch im Umkreis von Pegida und der AfD, wo man sich beispielsweise Mehrheiten gegen das bestehende Asylrecht erhofft. Ist es nur diese Instrumentalisierung von Volksentscheiden durch Populisten, die mich skeptisch stimmt? Schließlich lassen sich Rechtsextreme ja auch bei Parlamentswahlen nicht verhindern. Warum also meine Fragen?

Die „Warnung vor dem Volk“, die schon so mancher Kolumnist entweder ironisch kritisierte oder auch bewusst unterstützte, kann es nicht sein – denn schließlich ist das Volk der Souverän, von dem laut Verfassung alle Gewalt ausgeht. Seit der Aufklärung und der französischen Revolution wurde darum gerungen, der Macht dieses Souveräns mit den passenden Strukturen Ausdruck zu verleihen. Es kann keinesfalls darum gehen, durch den Einfluss einer politischen Elite den Willen oder den Einfluss dieses Souveräns in Abrede zu stellen und die Rede von der Gesellschaft, die man vor dem Volk „schützen“ müsse, ist ein gedankenloses Unding. Ein weiteres Argument, das die Kritik an Volksentscheiden entkräften würde: Selbstverständlich sind auch Parlamentswahlen, denen die bundesrepublikanische Verfassung die Ausübung des Volkswillens (auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene, also fast jedes Jahr einmal) zuweist, nicht vor populistischen Tendenzen gefeit. Sie sind auch keineswegs grundsätzlich vernünftiger in ihren Ergebnissen. Bestes beziehungsweise schlechtestes historisches Beispiel dafür: die Wahlerfolge der NSDAP in den 30er Jahren und die daraus resultierende Wahl Hitlers zum deutschen Regierungschef.

Und doch: Das Prinzip Volksabstimmung macht mich skeptisch. Ja, der eingeschliffene Betrieb der Parteiendemokratie ist oft zäh und zeigt sich manchmal auch handlungsunfähig, zum Ärger der Bürgerinnen und Bürger. Die ihm eingeborene Trägheit, die Angewiesenheit auf Mehrheiten, Fraktionszwänge und ähnliches sind die eine Seite. Die andere Seite ist eine Kontinuität und auch Verlässlichkeit einer Demokratie, die auf dem Vertreterprinzip basiert. Aber es ist ja bei weitem nicht etwa nur die jeweilige Regierung, welche die politische Wirklichkeit gestaltet – man denke nur an das System der zwei Kammern, wodurch noch längst nicht jedes mehrheitlich beschlossene Gesetz auch wirksam wird. Das Funktionieren der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie beschränkt sich eben nicht auf die Ergebnisse einer einmal in vier Jahren getroffenen Entscheidung der Bevölkerung. Es ist ebenso sehr auch gebunden an das mehr untergründige politische Geschehen mit seinen eher langfristigen Willensbildungen in Ausschüssen, in den parteinahen Stiftungen, in gesellschaftlich relevanten Großorganisationen oder NGOs und wird nicht zuletzt auch durch die kritische Begleitung der medialen Öffentlichkeit geprägt. Der Soziologe Ulrich Beck fasste dieses Zusammenspiel unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte einmal in das Bild eines fein austarierten Mobiles, jenes im Virtual Reality-Zeitalter etwas in Vergessenheit  geratenen Deckenschmucks, bei dem Gebilde von unterschiedlicher Masse durch gegenseitigen Gewichtsausgleich in Balance gebracht werden – ein schöner Anblick. Ähnlich wie bei diesen Schmuckstücken aus Papier oder Holzfiguren hängt nach Beck auch das Wohl einer Gesellschaft von einem dynamischen Gleichgewicht der Kräfte ab.

Volksabstimmungen wirken für unser filigranes soziales Mobile wie ein Windstoß bei geöffnetem Fenster. Sie sind momentane und monothematische Konzentrationen des politischen Willens auf ein klar umgrenztes Motiv. Der Kompromiss, wie er dem Parteiensystem durch Koalitionsbildungen und andere Mechanismen inhärent ist, wird hier von vornherein ausgeschlossen, weil es nur um ein Ja oder Nein geht. Volksentscheide neigen zur Spaltung. Während eine nachhaltig orientierte Politik immer auf langfristige Folgen ausgerichtet sein sollte, haben Volksentscheide oft situative Anlässe und schöpfen aus zeitbedingten Atmosphären. In ihrem Verlauf profitieren sie von dem ohnehin meist mehr auf Effekte denn auf Argumente zielenden Medienbetrieb. Sie neigen zur Show – das kann gute Show sein wie bei den spektakulären Aktionen der Schweizer Grundeinkommens-Initiative oder schlechte Show wie bei Donald Trump, dem zwar viel Medienmacht, aber glücklicherweise nicht das Instrument der Volksabstimmung zur Verfügung steht.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied: Durch die Wahl von Parteien und Abgeordneten entstehen Verantwortlichkeiten. Abgeordnete werden an dem gemessen, für das sie gewählt wurden. Werden Erwartungen enttäuscht und Aufträge nicht erfüllt, hat das Folgen für die Wiederwahl. Eine entsprechende Zuordnung von Verantwortlichkeit gibt es beim Volksentscheid nicht: Die Protagonisten eines Plebiszits müssen nicht selbst mit seinen Folgen umgehen, ja sie können sich sogar wie jüngst im Falle der Brexit-Organisatoren, nach einem Erfolg aus dem Staub machen und anderen die Arbeit überlassen.

Ein weiterer Grund, der für Volksabstimmungen angeführt wird: Die Befürworter erhoffen sich, durch dieses Instrument spezielle inhaltliche Positionen oder Gesetze durchzubringen, die auf dem Weg durch die parlamentarischen Strukturen nicht umsetzbar wären, jedenfalls nicht ad hoc. Die Volksabstimmung ist immer ein erhoffter Sonderweg. Aus dem bisher Ausgeführten wird man bereits schließen können, dass dieser Grund für mich gegen das Prinzip Volksabstimmung spricht.

Ich denke, der Parlamentarische Rat hat seinerzeit bei der Abfassung des Grundgesetzes mit Bedacht Volksabstimmungen auf Bundesebene nicht in Betracht gezogen, um die Stabilität der durch Parlamentswahlen legitimierten Regierungen nicht zu gefährden – dass unsere Verfassung also nicht eigentlich gegen direkte Demokratie, sondern bewusst für einen starken Parlamentarismus ausgerichtet ist. Ich habe bis vor kurzem geglaubt, dass die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsform in Deutschland nach den vielen Jahrzehnten ihrer Praxis so stark ist, das es angesagt wäre, den Wirkungsraum der Bevölkerung auch durch Volksabstimmungen auf Bundesebene zu erweitern. Durch das Erstarken von Rechtsextremismus und demokratiefeindlichem Querfrontdenken bis in bürgerliche Mitte hinein zweifle ich inzwischen daran.

Regelrecht zum Ver-zweifeln bringt es mich, wenn ausgerechnet im Umfeld der um mehr Teilhabe bemühten Initiativen für mehr Demokratie Sätze fallen wie der, dass wir in Deutschland ohne Volksabstimmungen „gar keine echte“ Demokratie hätten. Hier wird die Polemik der Aktivisten dem Pegida-Hass gegen das parlamentarische System manchmal zum Verwechseln ähnlich und man frönt einer fundamentalistischen Systemkritik, die ich für gefährlich halte, weil sie in Zeiten des allerorten aufflammenden Neo-Totalitarismus ein Demokratiemodell untergräbt, das sich trotz aller Mängel in nunmehr fast sieben Jahrzehnten beispiellos in der deutschen Geschichte bewährt hat.

Was mich außerdem skeptisch stimmt: dass hier (übrigens ähnlich wie bei der Grundeinkommens-Idee) ein politischer Ansatz mit der Erwartung überfrachtet wird, allein aus einer strukturellen Veränderung heraus würde schon eine bessere Welt entstehen. Selbst wenn das Prinzip Volksabstimmung einmal etabliert wäre: eine Garantie für mehr politisches Engagement in der Bevölkerung oder für eine insgesamt sich vernünftiger entwickelnde Gesellschaft ist damit keineswegs verbunden. Volksabstimmungen können zu reaktionären Ergebnissen führen – Stichwort Minarettverbot, Stichwort Flüchtlinge – und unter Umständen die Beherrschung einer mobilisierten Minderheit über eine Mehrheit zum Resultat haben, wenn diese Mehrheit eben gar nicht zur Abstimmung gegangen ist.

Mein Fazit: Ich halte Volksabstimmungen nicht für grundsätzlich falsch, weil sie unter ganz klaren Auflagen, die z.B. einen grundgesetzwidrigen Missbrauch ausschließen, eine Erweiterung der demokratischen Kultur bedeuten könnten. Heilserwartungen sollte man damit nicht verbinden. Die derzeitige politische Großwetterlage ist auf jeden Fall kein guter Zeitpunkt, damit zu beginnen.