Advent

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Im Advent sind mehr Almosenerbittende unterwegs als sonst im Jahr. In der Fußgängerzone saß neulich sogar einer mit Kerze. Und gestern klingelte es an der Haustür.

Ein Junge mit einer Sammelbüchse, das Alter schwer zu schätzen, südlich-dunkle Haut, tiefschwarze Haare, vom Gesicht her irgendwo zwischen zwölf und vierzehn. Als er zu reden anfängt, korrigiere ich auf zehn oder zwölf, wegen der hellen, fast singenden Stimme. Er komme vom Winterzirkus und wolle um etwas Geld für das Futter der Tiere bitten, sagt er, irgendwie feierlich. Ich finde das ehrbar, was er macht, spontan kommen Erinnerungen an meine eigene Kindheit hoch, wo am Rande der Großstadt immer wieder Wanderzirkusse Rast machten. Vielleicht sehe ich mich für einen Moment selbst in dem Jungen. In Sekundenbruchteilen entscheide ich, dass jetzt weder mein Zweifel bezüglich Zirkustieren zur Sprache noch eine Ausrede zur Anwendung kommen wird, dass ich kein Kleingeld hätte. Ich werfe ihm zwei Euro in die Büchse.

Als ich mich umdrehe, geht noch ein Nachbar durch den Hauseingang, ich höre wieder diese helle, engelhafte Stimme ihren Spruch mit dem Winterzirkus sagen, der gleiche, so ernsthaft erklärende Tonfall des Jungen, aber der Nachbar reagiert, wie ich vielleicht auch reagiert hätte, eilig, unwirsch, wortlos weitergehend, den Jungen mit der Büchse zurücklassend.

Ich spüre, wie man so sagt, einen Stich im Herzen. Wieder in der Wohnung zurück, wo in alter Tradition ein Adventskranz auf dem Tisch steht, ist es warm, mein Milchkaffee steht noch da, die Nachmittagssonne dieses klaren und kalten Tages vergoldet den Raum. Mein Gott, hab‘ ich es gut. Mir schießen Tränen in die Augen bei dem Gedanken, warum dieser liebenswürdige Junge jetzt weiter die Straßen mit seiner Büchse abklappern muss; ich denke darüber nach, was aus mir selbst geworden wäre, wenn meine Eltern mir nicht ermöglicht hätten, dass ich zur Schule und später zur Universität gehen konnte, und finde die Welt unerträglich ungerecht. Hoffentlich kann der Junge heute mit Stolz seinem Zirkus eine volle Büchse bringen.

Als ich später am Abend in einem Gespräch von der Begegnung mit dem Jungen erzähle – und noch immer kriege ich nasse Augen dabei – tröstet mich eine liebe Seele, dass wir die Welt eben meist nur durch einen Filter geschützt überstehen können.  In der Wirklichkeit aber webt immer diese Beziehung von Mensch zu Mensch, wo ich nicht von diesem Jungen getrennt bin, und mir scheint, dass in der Zeit vor Weihnachten diese Seelennähe unverhüllter als sonst zum Vorschein kommt. Wie aber könnten wir weiterleben, wenn wir das jeden Moment so spüren würden?